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Wahlkampf zur Russischen Staatsduma

Emblem der Russischen Staatsduma. Lizenz: kein Copyright.

5. Dezember 2003
Von Jens Siegert
Von Jens Siegert, Moskau

Vor-Vorwahlkampf

Der Wahlkampf zur 4. Russischen Staatsduma begann bereits im Herbst 2002 mit einer von der Präsidialadministration initiierten Änderung des Wahlgesetzes. Die Änderungen hatten, wie das schon früher beschlossene neue Parteiengesetz, im Sinne der „lenkbaren Demokratie“ zwei Ziele: Sie sollten zum einen kleinere Parteien zwingen, sich zusammen zu schließen und so ein aus Kremlsicht berechenbareres und damit auch besser kontrollierbares Parlament schaffen. Zum zweiten hoffte man auf diese Weise die Chancen für die kremlnahe „Partei der Macht“ Jedinaja Rossija (Einiges Russland) zu verbessern. „Einiges Russland“ sollte auf jeden Fall stärker als die Kommunistische Partei Russlands (KPRF) werden und, falls nötig gemeinsam mit anderen von der Präsidialadministration kontrollierbaren Parteien oder Wahlbündnissen, mindestens eine relative, besser noch eine absolute Mehrheit in der neu zu wählenden Duma erhalten.

Frühstart im Vorwahlkampf

Das Wahljahr begann dann im Spätwinter 2002/2003. In einer Art Frühstart griffen Pro-Putin-Parteien, allen voran „Einiges Russland“ die Kommunistische Partei (KPRF) an. Diese Angriffe waren nicht zufällig, sondern folgten der in der Präsidialadministration formulierten Aufgabe, aus „Einiges Russland“ in der neuen Duma die größte Fraktion zu machen. Doch die Kampagne zeigte kaum Wirkung. Die Umfrageergebnisse veränderten sich bis zur Sommerpause kaum: weiterhin wechselten sich KPRF und „Einiges Russland“ an der Spitze der Ratings ab. Beide lagen – mit kleinen Abweichungen nach Umfragezeitpunkt und Meinungsforschungsinstitut – konstant zwischen 20 und 25 Prozent. Den dritten Platz belegte die rechtsradikale Schirinowskij-Partei LDPR mit 7 bis 10 Prozent, dahinter hielten sich die beiden demokratischen Parteien Jabloko und Union der Rechten Kräfte (SPS) stabil zwischen 4 und 6 Prozent.

Der vom damaligen Leiter der Präsidialadministration, Alexander Woloschin, initiierte Versuch, die zentristischen Kräfte in der 3. Staatsduma („Einheit“, „Heimat“, „Russische Regionen“, „Volkspartei“) in einem Wahlblock zu vereinigen, scheiterte. Innerhalb der Kremladministration konnten sich die beiden Hauptgruppen, also die „ökonomischen Modernisierer“ oder „Jelzinfamilie“ um Woloschin auf der einen und den „Silowiki“ aus den „Machtministerien“, um seinem Stellvertreter Wiktor Iwanow auf der anderen Seite, nicht auf eine gemeinsame Strategie für die Wahlen einigen. Dabei dürfte die Frage, wer die Kontrolle über die künftige „Partei der Macht“ erlangt, eine wesentliche Rolle gespielt haben. Mit Unterstützung der „Silowiki“ versagte die linksnationalistische „Volkspartei“ unter Gennadij Rajkow sich dem Vereinigungsprojekt und trat selbständig zu den Wahlen an. Doch weder ihr, noch den ideologisch ähnlich ausgerichteten und mit Kremlunterstützung operierenden Wahlblöcken des aus der kommunistischen Partei kommenden Dumavorsitzenden Gennadij Selesnjow (Block Selesnjow) und des populären Ökonomieprofessors Sergej Glasjew (Rodina) gelang ein nachhaltiger Einbruch in das Wählerpotential der KPRF. Umgekehrt zeigten Umfragen, dass sie sogar Wähler von „Einiges Russland“ abzogen.

Bis zur Sommerpause wurde also trotz erheblicher Anstrengungen auch unter Zuhilfenahme „administrativer Ressourcen“ keines der Ziele erreicht. Es gelang weder, einen einzigen, präsidententreuen Wahlblock um aufzubauen, noch in nennenswertem Umfang kommunistische Wähler abzuwerben. Im Herbst sprach sich der bis dahin zurückhaltende Präsident Putin öffentlich für die Wahl von „Einiges Russland“ aus. Mit der Verhaftung Michail Chodorkowskijs Ende Oktober und der fast gleichzeitigen Aufdeckung einer Reihe von kriminellen Vereinigungen innerhalb der Sicherheitsorgane wurde versucht in großen Bevölkerungsteilen bestehende Ressentiments gegen die sogenannten Oligarchen zu mobilisieren. Gleichzeitig begann eine massive öffentliche Kampagne gegen die KPRF.

„Einiges Russland“ gegen Kommunisten

Die Versuche, durch linksnationalistische Neugründungen in das Wählerreservoir der KPRF vorzudringen, mussten im Herbst als weitgehend gescheitert gelten. Die Kommunisten blieben in Umfragen gleichauf mit „Einiges Russland“. Der Angriff auf die KPRF wurde aber fortgesetzt. Anfang November beschuldigte ein Abgeordneter aus der Dumafraktion von „Einiges Russland“ in einem Brief an die Generalstaatsanwaltschaft, den Chef des Konzerns „Rosagropromstroj“, Wiktor Widmanow, der auch auf der Liste der KPRF kandidiert, staatliche, seinem Konzern für Baumaßnahmen in ländlichen Gebieten überlassene Gelder veruntreut zu haben und damit den Wahlkampf seiner Partei zu finanzieren. Die Generalstaatsanwaltschaft leitete umgehend ein Ermittlungsverfahren ein. Zudem warf man Widmanow Kontakte mit dem im Londoner Exil lebenden Unternehmer Boris Beresowskij vor. Beresowskij, so Presse- und Fernsehberichte, gebe der KPRF Geld für den Wahlkampf. In landesweit zur prime time ausgestrahlten Wahlkampfspots einer weitgehend unbekannten „Partei der Rentner – Partei der sozialen Gerechtigkeit“ wird eine Linie zwischen der KPRF, Beresowskij und tschetschenischen Terroristen gezogen, die Beresowskij angeblich ebenfalls finanziere.

Jabloko gegen SPS

Schwierig stellte sich auch die Lage der beiden demokratischen Parteien Jabloko und Union der Rechten Kräfte (SPS) dar. Gespräche über eine Vereinigung oder zumindest eine gemeinsame Liste zu den Wahlen waren spätestens im Sommer gescheitert. Laut Umfragen umfasst das gemeinsame, sich teilweise überschneidende Wählerpotential nicht mehr als 10 bis 12 Prozent. Die Chance, dass beiden Parteien der Sprung über die 5-Prozent- Hürde gelingt, ist demzufolge klein. In erster Linie die SPS begann daraufhin einen aggressiven Wahlkampf gegen Jabloko. Jabloko beschuldigte SPS sogenannte „schwarze Wahlwerbung“ zu finanzieren, wie beispielsweise im Spätsommer in der St. Petersburger Presse erscheinende Berichte über eine Aktion „Jabloko ohne Jawlinskij“. Diese angeblich von Jabloko-Anhängern initiierte Kampagne suggerierte, Jawlinskij sei aufgrund persönlicher Ambitionen Schuld daran, dass kein Wahlbündnis zustande gekommen war. Der dauerhaft schwelende Konflikt spitzte sich nach der Verhaftung Chodorkowskijs Ende Oktober weiter zu. Anatolij Tschubais von SPS forderte Jabloko angesichts der, wie er sagte, „Gefahr einer totalitären Entwicklung“ ultimativ öffentlich auf, doch noch einem Wahlbündnis zuzustimmen, um eine Duma ohne liberale Fraktion zu verhindern. Jabloko wies dies als rein wahltaktischen Schritt zurück. Eine gemeinsame Liste war wegen abgelaufener Fristen rechtlich bereits nicht mehr möglich.

Zwei Tage vor der Verhaftung von Chodorkowskij durchsuchten Staatsanwälte und Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB die Räume einer PR-Agentur, die für den Chodorkowskij-Konzern JUKOS arbeitete, zugleich aber auch die Wahlkampagne von Jabloko konzipiert hatte. Dabei wurden Computer mit sämtlichen Wahlkampfunterlagen von Jabloko und der vollständigen Liste aller Wahlkampfbüros beschlagnahmt.

Die Zentrale Wahlkommission und die Verrenkungen der Wahlgesetzgebung

Der Zentralen Wahlkommission (ZIK) werden durch das Wahlgesetz weitreichende Vollmachten einräumt. Sie registriert nicht nur Kandidaten und Wahllisten und organisiert die Wahlen, sondern überwacht auch die Einhaltung der Wahlgesetzgebung. Ein großer Teil der darin niedergelegten Regeln ist jedoch sehr ungenau formuliert und daher weit interpretierbar. So durften die Kandidaten mit ihrer Wahlwerbung nicht eher als einen Monat vor dem Wahltermin beginnen. Doch es ist praktisch unmöglich, zu entscheiden, wann eine Äußerung zu aktuellen politischen Fragen eine Wahlwerbung darstellt und wann nicht. Dies führte zu zahlreichen Anzeigen und Klagen. Der Auftritt von Präsident Putin auf dem Parteitag von „Einiges Russland“ im September blieb dagegen ohne Rüge, obwohl Putin sich in einem Grußwort dazu bekannte, vor vier Jahren für Jedinstwo gestimmt zu haben und seine Wahl nicht zu bereuen. Eine Klage gegen Putin wies das Oberste Gericht Ende November mit Hinweis auf die Immunität des Präsidenten ab.

Absurd erscheinen auch die Verrenkungen, zu der die vier Spitzenkandidaten von „Einiges Russland“ gezwungen werden, um der Wahlgesetzgebung Genüge zu tun. Alle vier Politiker, Innenminister Boris Gryslow, Katastrophenschutzminister Sergej Schoigu, Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow und der tatarische Präsident Mintemir Schaimijew, mussten als Staatsbeamte, so will es das Gesetz, für den Wahlkampf „Urlaub“ nehmen. Eigentlich soll auf diese Weise verhindert werden, dass Beamte „administrative Ressourcen“ im Wahlkampf nutzen. Die Vorschrift hielt Gryslow aber keineswegs davon ab, am offiziellen „Tag der Milizionäre“ neben Präsident Putin als Redner aufzutreten und sich als Kämpfer gegen Korruption in den Reihen der Miliz feiern zu lassen. Ähnliches ließe sich auch über seine Kandidatenkollegen berichten. Gryslow, Schoigu und Schaimijew wollen, wie im Übrigen auch Luschkow, ihr Abgeordnetenmandat nicht antreten und auf ihrem bisherigen Posten bleiben. Luschkow kandidiert bei den am gleichen Tag stattfindenden Moskauer Bürgermeisterwahlen.

Die Wahlen im Fernsehen: Werbespots und Livedebatten

Nach dem Gesetz muss allen zur Wahl zugelassenen Parteien und Wahlbündnissen zu gleichen Bedingungen kostenlose und bezahlte Sendezeit zur Verfügung gestellt werden. In einer Auslosung wurde am 4. November die kostenlose Sendezeit verteilt. Die drei staatlich kontrollierten, landesweit empfangbaren Fernsehsender senden täglich eine Stunde Live-Debatten und Wahlwerbespots.

„Einiges Russland“ verzichtete jedoch auf die Teilnahme an diesen Livediskussionen. Ihr Spitzenkandidat, Innenminister Gryslow, begründete diese Weigerung damit, dass sich „ein Fußballclub aus der ersten Liga“ ja auch nicht im Wettbewerb mit „Drittligavereinen“ messe. Diese Arroganz ist offensichtlich wohlbedacht. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts VZIOM-A rund zwei Wochen vor dem Wahltermin landete „Einiges Russland“ bei der Frage, welche Partei sich in diesen Debatten am besten schlage, mit rund 30 Prozent auf dem ersten Platz – wohlgemerkt ohne teilgenommen zu haben. Doch so sehr geirrt haben sich die Befragten nicht. Politiker von „Einiges Russland“ sind in den staatlich kontrollierten Kanälen auch außerhalb der Wahlwerbezeiten ständig präsent. Die OSZE-Wahlbeobachtermission drückte in ihrem zweiten Zwischenbericht ihre Besorgnis über „ungleiche Möglichkeiten“ der Wahlbewerber aus. Es gäbe bestätigte Berichte für die Nutzung „administrativer Ressourcen“ durch „Einiges Russland“. Zudem rügte die Mission, dass „‘Einiges Russland‘ und andere die Politik des Präsidenten unterstützende Parteien in den staatlich kontrollierten Massenmedien bevorzugt werden“. Nur die drei Staatskanäle sind aber landesweit zu empfangen.

Aufrufe zum Wahlboykott…

Das Interesse der Bevölkerung an den Wahlen ist eher gering. Nach den Umfrageergebnissen wird die Wahlbeteiligung aber trotzdem zwischen 50 und 60 Prozent liegen, also weit höher als bei verschiedenen Regionalwahlen früher in diesem Jahr. Mit zwischen 6 und 10 Prozent ist der Anteil derjenigen, die „gegen alle“ stimmen wollen recht hoch. In zahlreichen Regionen haben sich, meist auf Nachbarschaft- oder Stadtteilsebene Wahlboykottinitiativen gebildet. Deren Forderungen beziehen sich zumeist auf grundlegende Probleme wie nicht gezahlte Löhne, abgeschalteten Strom oder ungeheizte Wohnungen. Trotz des verständlichen Medieninteresses dürften die Auswirkungen dieser Initiativen auf den Wahlausgang aber gering bleiben.

… und die Prognose einer Wahlfälschung?

Das Meinungsforschungsinstitut VZIOM-A führte drei Wochen vor dem Wahltermin in drei ausgewählten Städten eine „Probewahl“ durch. Das Ergebnis erstaunte, weil es stark von den bisherigen Umfrageergebnissen abwich. Jedinaja Rossija kam auf über 30 Prozent, die KPRF sank auf unter 15. Die LDPR erhielt 8, SPS 6, Jabloko und, neu, das linksnationalistische Wahlbündnis Rodina rund 5 Prozent. Genau dieses Ergebnis, so behauptet die liberale Wochenzeitung „Nowaja Gaseta“, habe die Präsidialadministration in Auftrag gegeben. In Moskau und St. Petersburg, so der Artikel, sei es möglich, die tatsächlichen Ergebnisse um 2-2,5% manipulieren. In einigen praktisch autoritär geführten Republiken wie Tatarstan, Baschkirien oder Tschetschenien liege die Spanne bei bis zu 40% der Stimmen. Die Zentrale Wahlkommission hat die Generalstaatsanwaltschaft aufgefordert, zu untersuchen, ob derartige Wahlmanipulationen tatsächlich geplant seien.

Die Präsidentenwahlen in Tschetschenien Anfang Oktober mit ihren gut dokumentierten Manipulationen haben gezeigt, wie bei einer Wahl in Russland heute, wenn auch dort unter extremen Bedingungen, das „wünschbare“ Resultat zu erzielen ist. Die Methoden bei der Dumawahl sind feiner und zumindest in den europäischen Zentren weniger direkt. Aber auch ohne zentral in Auftrag gegebene und gesteuerte Wahlmanipulationen zu unterstellen, kann von einer freien und vor allem gleichen Dumawahl leider nicht die Rede sein.


Jens Siegert ist Diplompolitologe und Leiter des Länderbüros Russland der Heinrich Böll Stiftung in Moskau, wo er seit 1993 als Korrespondent deutscher Zeitungen gearbeitet hat.

Dieser Artikel erschien zunächst in Russlandanalysen Nr. 08/2003 vom 05. Dezember 2003, Redaktion: Hans-Henning Schröder.

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